„Frau Meier, der Mailo hat geschummelt!“ – Kaum ein Tag im pädagogischen Alltag vergeht, ohne dass Kinder sich über andere beschweren. Oft kommt reflexhaft ein genervtes Augenrollen oder der Satz: „Jetzt hör doch mal auf zu petzen!“ Doch was steckt eigentlich hinter dem sogenannten Petzen? Und was hat es mit dem Satz auf sich: „Petzen heißt: Ich brauche dich“?
Viele Erwachsene empfinden Petzen als lästig, überflüssig oder gar schädlich für’s soziale Miteinander. Manche Kinder werden dafür ausgeschimpft oder von Gleichaltrigen ausgegrenzt. Dabei lohnt es sich, genauer hinzusehen: Petzen heißt oft nicht nur „Ich will, dass der/die Ärger bekommt“, sondern vielmehr: Ich brauche dich! Ich komme gerade alleine nicht klar.
In diesem Blogartikel schauen wir differenziert auf das Thema Petzen – und darauf, wie wir in Schule, Kita oder Hort klug und empathisch damit umgehen können.
Inhalt
Was ist Petzen überhaupt?
Petzen ist nicht gleich Petzen – und es ist nicht immer leicht zu erkennen, was genau ein Kind mit seiner Aussage bezweckt. Deshalb lohnt sich zunächst eine begriffliche Klärung.
Typisch für „Petzen“ im engeren Sinne sind:
- das Mitteilen von Regelverstößen anderer,
- ohne selbst betroffen zu sein,
- mit dem Ziel, dem anderen zu schaden oder sich selbst einen Vorteil zu verschaffen,
- oft in einem Kontext, in dem Kinder Machtverhältnisse austesten.
Ein Beispiel: Lina sagt zur Lehrerin: „Der Jaron hat schon wieder seine Hausaufgaben nicht!“ – obwohl es sie gar nicht betrifft. Vielleicht möchte sie selbst gut dastehen oder fühlt sich unfair behandelt, weil Jaron keine Konsequenzen bekommt.
Aber: Nicht jedes Verhalten, das Erwachsene oder Kinder als „Petzen“ bezeichnen, ist auch wirklich eines. Viele Kinder holen sich schlichtweg Hilfe, wenn sie mit einer Situation überfordert sind. Sie sagen Bescheid, weil sie Angst haben, etwas falsch zu machen – oder weil sie gelernt haben: Wenn ich etwas sehe, das nicht in Ordnung ist, muss ich es sagen.
Und genau hier wird es spannend: Denn hinter dem Satz „Der hat aber…!“ kann sehr wohl ein echtes Anliegen stecken. Ein Wunsch nach Gerechtigkeit. Nach Sicherheit. Nach Zugehörigkeit. Oder nach deiner Aufmerksamkeit. Wieder zeigt sich: Petzen heißt oft auch: Ich brauche dich.
Im nächsten Unterkapitel schauen wir, warum Petzen nicht einfach als „schlecht“ abgestempelt werden sollte – und wie ein entwicklungspsychologischer Blick auf das Verhalten weiterhilft.
Warum Petzen nicht einfach „schlecht“ ist
Viele Erwachsene reagieren auf Petzen genervt, mit Sätzen wie: „Komm klar!“, „Misch dich nicht ein!“ oder „Petzen ist verboten!“ Doch so eine Haltung greift oft zu kurz – besonders, wenn wir Kinder in ihrer sozialen und emotionalen Entwicklung ernst nehmen wollen.
Kinder lernen gerade erst, sich in einer Gruppe zurechtzufinden. Sie beobachten sehr genau, was erlaubt ist und was nicht. Wenn ein anderes Kind gegen Regeln verstößt, empfinden sie das als ungerecht – vor allem, wenn sie selbst sich an die Regeln halten mussten. Sie möchten Klarheit, Verlässlichkeit und Orientierung. Petzen kann also ein Ausdruck eines stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinns sein.
Gleichzeitig kann Petzen auch ein indirekter Hilferuf sein:
- Ein Kind fühlt sich bedroht oder unsicher.
- Es versteht eine Situation nicht.
- Es braucht Aufmerksamkeit oder Unterstützung.
Wenn wir solche Situationen pauschal abwerten, vergeben wir eine Chance: die Chance, Kinder in ihrer Selbstwirksamkeit zu stärken und sie sozial klug zu begleiten. Ein Kind, das petzt, sagt oft nichts anderes als: „Ich habe etwas beobachtet, das mich beschäftigt – bitte hilf mir, es einzuordnen.“
Oder, einfacher gesagt: Petzen heißt: Ich brauche dich.
Petzen in der Schulmediation
Auch in der Schulmediation und in der Arbeit mit der Friedenstreppe taucht das Thema Petzen immer wieder auf – sei es als Anlass für einen Konflikt oder als Haltung, die Kinder hemmt, sich mitzuteilen. Manche sagen dann Sätze wie:
„Ich will nix sagen, sonst heißt es wieder, ich hätte gepetzt.“
Oder: „Wenn ich jetzt was erzähle, dann krieg ich Ärger von den anderen.“
Das zeigt: Die Angst, als Petze abgestempelt zu werden, kann Kinder davon abhalten, sich Hilfe zu holen – selbst bei ernsthaften Konflikten.
Gleichzeitig erleben wir in der Mediation auch das Gegenteil. Manche Kinder bringen eine richtige Liste an Vorwürfen mit – Dinge, die sie gesammelt haben, um endlich „ihr Recht“ zu bekommen. Auch hier geht es selten um reine Rechthaberei, sondern oft um das Bedürfnis nach Gehörtwerden, Gerechtigkeit und Klärung.
Petzen ist also in der Mediation kein Störfaktor – sondern ein Hinweis auf ungelöste Themen. Ein guter Mediationsprozess hilft dabei, aus dem Petzen einen echten Dialog zu machen.
- Kinder lernen, über ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen.
- Sie erkennen, dass sie andere nicht bloßstellen müssen, um gehört zu werden.
- Sie erfahren, dass sie auf faire Weise Einfluss nehmen können.
Besonders hilfreich ist es, wenn eine Schule über ein strukturiertes Mediationsangebot verfügt – etwa durch ausgebildete Schülermediator:innen oder über einen Klassenrat, in dem viele Dinge besprochen werden können. So entsteht ein klarer Rahmen, in dem Kinder lernen können:
„Es gibt einen Unterschied zwischen Petzen und Hilfe holen – und ich darf mir Unterstützung holen, ohne beschämt zu werden.“
Denn auch in der Mediation gilt: Petzen heißt: Ich brauche dich. Und genau das nehmen wir ernst.
Wie wir als Erwachsene sinnvoll darauf reagieren können
Wenn Kinder petzen, stehen wir Erwachsenen oft vor einem Dilemma: Einerseits möchten wir die Eigenverantwortung der Kinder stärken, andererseits nicht wegsehen, wenn jemand wirklich Hilfe braucht. Wie also reagieren wir klug – ohne das Petzen reflexhaft abzuwerten oder es unreflektiert zu belohnen?
Fünf typische Reaktionen, die wenig helfen
- „Ich will nichts hören.“ – signalisiert: Deine Beobachtung ist mir egal.
- „Komm selbst damit klar.“ – überfordert jüngere Kinder.
- „Petzen ist verboten.“ – pauschale Ablehnung, die auch Hilferufe abwehrt.
- „Und, was hat das mit dir zu tun?“ – kann bloßstellen statt zum Nachdenken anregen.
- „Immer mischst du dich ein!“ – schadet dem Selbstwertgefühl.
Was hilft stattdessen?
- Aktives Zuhören: Kurz innehalten, Blickkontakt, ernst nehmen – auch wenn keine Lösung nötig ist.
- Kluge Rückfragen stellen: Zum Beispiel:
- „Willst du helfen oder schaden?“
- „Was wünschst du dir jetzt von mir?“
- „Traust du dir zu, das selbst zu klären?“
- Hilfestrukturen schaffen: Friedenstreppe, Klassenrat, Beschwerdebox, Mediator:innen – so wissen Kinder, wohin sie sich wenden können.
- Gemeinsame Regeln entwickeln: Was gehört dazu, wenn ich mir Hilfe hole? Wie sage ich etwas, ohne jemandem zu schaden?
Der wichtigste Punkt aber bleibt: Nicht vorschnell urteilen. Hinter dem Petzen steckt oft mehr, als auf den ersten Blick sichtbar ist. Eine kurze Frage, ein offenes Ohr, eine ernst gemeinte Zuwendung können einen Unterschied machen. Denn: Petzen heißt: Ich brauche dich. Und das ist ein Moment, in dem Beziehung wachsen kann.
Was Kinder stattdessen lernen sollten
Kinder müssen Petzen nicht „verlernen“ – sie brauchen vielmehr die Chance, differenzierter mit Konflikten und Gerechtigkeit umzugehen. Es geht darum, ihnen hilfreiche Alternativen an die Hand zu geben.
1. Gefühle und Bedürfnisse ausdrücken
Statt: „Der hat wieder alles kaputtgemacht!“
lieber: „Ich war traurig, als das Spiel kaputt ging. Ich will, dass wir vorsichtiger damit umgehen.“
2. Eigene Anliegen formulieren
Statt über andere zu sprechen, lernen Kinder, für sich selbst zu sprechen. Das stärkt ihre Selbstwirksamkeit und reduziert Schuldzuweisungen.
3. Hilfe holen ohne Bloßstellung
Kinder sollen lernen, dass es mutig ist, sich Unterstützung zu holen – besonders in kritischen Situationen (z. B. Gewalt, Mobbing, Angst). Hier braucht es einen klaren pädagogischen Rahmen: Hilfe holen ist nicht Petzen. Es ist Verantwortung übernehmen – für sich oder für andere.
4. Zivilcourage fördern
Manchmal müssen Kinder sagen: „Das ist nicht in Ordnung.“ Dann geht es nicht ums Petzen, sondern darum, sich für Fairness und Schutz einzusetzen. Wer sich traut, bei Unrecht den Mund aufzumachen, braucht Rückhalt – und Vorbilder. Und genau hier kommen wir ins Spiel: Erwachsene, die Kindern mit Haltung, Empathie und Klarheit begegnen. Die verstehen: Petzen heißt: Ich brauche dich. Und genau deshalb lohnt es sich, hinzuhören – und gemeinsam weiterzudenken.
Fazit: Ein konstruktiver Umgang mit dem Petzen lohnt sich
Petzen ist kein Fehlverhalten, das wir möglichst schnell „abtrainieren“ sollten – sondern ein Signal. Es zeigt uns, dass ein Kind Orientierung, Beziehung oder Unterstützung braucht. Und es gibt uns als pädagogisch Handelnden die Möglichkeit, genau hinzuschauen: Was bewegt dieses Kind gerade? Welches Bedürfnis steckt hinter dem, was wie ein bloßes Anschwärzen klingt?
Wenn wir Petzen reflexhaft abwerten, riskieren wir, wichtige Botschaften zu überhören. Wenn wir hingegen bereit sind, genauer hinzuhören und zu unterscheiden, stärken wir nicht nur das einzelne Kind, sondern auch das soziale Miteinander in der Gruppe.
In Schulmediationen, im Klassenrat, in der Friedenstreppe, in der täglichen Interaktion gilt: Petzen heißt: Ich brauche dich. Dieser Satz kann zu einer inneren Haltung werden – und zu einem Kompass im Umgang mit kindlichen Beschwerden. Denn Kinder, die sich trauen, etwas anzusprechen, übernehmen Verantwortung. Sie geben uns Einblick in das, was unter der Oberfläche brodelt. Und sie verdienen Erwachsene, die mit Herz und Verstand reagieren.
Eine Einladung zum Umdenken
Ich stelle mir eine Schule vor, in der Kinder sich trauen, etwas zu sagen.
Auch wenn es unbequem ist.
Auch wenn andere „Petze“ rufen.
Eine Schule, in der sie lernen: Ich darf mich mitteilen – und ich werde gehört.
Ich stelle mir eine Kita vor, in der Beschwerden nicht abgewertet, sondern als Chance gesehen werden.
Wo Kinder erleben dürfen, wie man Konflikte anspricht, ohne andere bloßzustellen.
Wo sie spüren: Ich darf Fehler machen, ich darf etwas falsch einschätzen – und trotzdem bin ich willkommen.
Und ich stelle mir Erwachsene vor, die nicht reflexhaft urteilen.
Sondern erst einmal zuhören.
Die sich fragen: Was will mir dieses Kind wirklich sagen?
Ich lade dich ein, diese Sichtweise mitzudenken:
Petzen heißt: Ich brauche dich.
Ein Kind, das petzt, bittet um Verbindung.
Es sucht Sicherheit, Ordnung, Beziehung – manchmal ohne die richtigen Worte dafür.
Verändern wir die Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen.
Sorgen wir für Räume, in denen sie lernen können, sich selbst und andere ernst zu nehmen.
Sorgen wir für Strukturen, in denen sie mutig sagen dürfen, was sie bewegt.
Sorgen wir dafür, dass sie erleben:
Ich darf sein, wie ich bin – mit allem, was mich beschäftigt.
Nimmst du meine Einladung zum Umdenken an?
Fragt Christa Schäfer ✨